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Staat im Ausverkauf

Privatisierung in Deutschland

Erschienen am 21.07.2021, Auflage: 2/2021
26,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593514116
Sprache: Deutsch
Umfang: 342 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 21.3 x 14.2 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat verdeutlicht, warum es einen Staat braucht, der seine Bürger schützen, notleidende Unternehmen stützen und lebensrettende Infrastrukturen - Stichwort: Impfungen - organisieren kann. Dessen ungeachtet hallt das Credo des 'schlanken' Staates in weiten Teilen der Gesellschaft nach. Anhand besonders eindrücklicher Beispiele analysiert Tim Engartner in sieben Kapiteln - Bildung, Verkehr, Militär, Post und Telekommunikation, soziale Sicherung, Gesundheit sowie kommunale Versorgung - die Privatisierungen in Deutschland und ordnet sie in internationale Zusammenhänge ein. Sein Weckruf zeigt: Die Politik der Privatisierung öffentlicher Aufgaben, die von allen regierenden Parteien betrieben wird, ist nicht alternativlos. Die historischen Rettungspakete, die der Bund im Zuge der Corona-Krise 2020/21 geschnürt hat, drohen aber den Ruf nach weiteren Ausverkäufen noch lauter werden zu lassen.

Autorenportrait

Tim Engartner ist Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt ökonomische Bildung an der Universität zu Köln. Er veröffentlicht regelmäßig Artikel in Tages- und Wochenzeitungen (ZEIT, FAZ, FR, taz, Freitag, SZ).

Leseprobe

Staat im Ausverkauf - ein Weckruf Fahrpreiserhöhungen, Bahnhofsschließungen, Lok- und Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen, Verzögerungen im Betriebsablauf aufgrund "dichter Zugfolge" - immer wieder gerät die Deutsche Bahn aufs Abstellgleis. Als internationaler Mobilitäts- und Logistikdienstleister konzentriert sich das "Unternehmen Zukunft" (Eigenwerbung) längst auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag statt auf die Fahrgastbeförderung zwischen Delmenhorst, Dinslaken und Düren. Beinahe zwei Drittel seines Umsatzes erzielt der einst größte Arbeitgeber der Bundesrepublik inzwischen mit bahnfremden Dienstleistungen. Der Global Player vernachlässigt den inländischen Schienenverkehr und setzt stattdessen auf profitable Fluggesellschaften (Bax Global), Lkw-Speditionen (Stinnes), Fuhrparks (Bundeswehr) oder den Ausbau des Schienenverkehrs in Indien und Saudi-Arabien. Auch die Deutsche Post pflegt seit dem Jahr 2000 ihren Börsenkurs statt ihre Kunden und Beschäftigten. Um die "Aktie Gelb" attraktiv zu machen, wurden Tausende sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch 400-Euro-Jobs ersetzt, während sich der Vorstandsvorsitzende Frank Appel zuletzt über Bezüge von 5,2 Millionen Euro freuen durfte. Mini-, Midi- und Multi-Jobber sowie Zeit- und Leiharbeiter stellen Briefe und Pakete im Auftrag oder als "Servicepartner" des Konzerns zu. Wie die Konkurrenten UPS, DPD und Hermes delegiert auch das seit 2002 zur Deutschen Post AG zählende Logistikunternehmen DHL seine unternehmerische Verantwortung an Subunternehmer. Deutsche Bahn und Deutsche Post führen vor Augen, worüber die Nachrichtensendungen in Deutschland nur selten berichten: Im Glauben ­daran, dass Privatisierungen Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher machten, schüttelt Vater Staat seit mehr als drei Jahrzehnten seine Aufgaben ab - wie ein Baum seine Blätter im Herbst: Von 1982, dem Beginn der Ära Helmut Kohl (CDU), bis heute trennte sich allein der Bund von rund 90 Prozent seiner unmittelbaren oder mittelbaren staatlichen Beteiligungen. Unternehmen wie die Deutsche Bundespost, die Deutsche Bundesbahn, die Deutsche Lufthansa, die VEBA-Gruppe (die nun unter E.ON firmiert), die Immobiliengesellschaft IVG, die Bundesanstalt für Flugsicherung, die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahn (nunmehr Tank & Rast) - sie gehörten einst vollständig dem Bund und wurden doch alle privatisiert. Auch auf kommunaler Ebene greift die Entstaatlichung seit vielen Jahren Platz. Allerorten verkaufen Städte und Gemeinden ihre Wohnungen, Stadtwerke und Schulgebäude. Bei zwei von drei Haushalten wird der Müll inzwischen von Privatunternehmen wie den Branchenriesen Alba, Remondis, Sulo oder Veolia entsorgt. Marktmechanismen greifen seit einigen Jahren selbst bei (Hoch-)Schulen, Krankenhäusern und Justizvollzugsanstalten sowie bei Wasser-, Klär- und Elektrizitätswerken. Privatisiert werden neuerdings aber auch Armeen, Gewässer und Sparkassen - stets mit dem Versprechen, alle Bürger würden dadurch gewinnen und keiner etwas verlieren. Von der immer wieder in Aussicht gestellten Entlastung der öffentlichen Haushalte aber kann keine Rede sein - jedenfalls dann nicht, wenn man auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung blickt. So wurden durch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten rund 1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse vernichtet. Die historische Sondersituation der deutsch-deutschen Vereinigung, die in den 1990er-Jahren massiven ökonomischen Druck erzeugte, begünstigte das Abschmelzen von Bundesbeteiligungen in einzigartiger Weise. Rechnete man den Ausverkauf des DDR-Vermögens durch die Treuhandanstalt hinzu, bei dem viele volkseigene Betriebe weit unter Wert an teils windige Investoren verschachert wurden, fiele die Privatisierungsbilanz noch sehr viel düsterer aus. Die kontinuierlich steigenden Kosten, die Bürger für Wasser, Strom und Gas aufbringen müssen, sind das Ergebnis der in den 1990er-Jahren angestoßenen Privatisierungen im Energiesektor - aber die wenigsten Bürger können sich diesen Zusammenhang erschließen. Bildung in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) proklamierten "Bildungsrepublik" kann sich schon jetzt nicht mehr jeder leisten - und trotzdem wächst die Zahl der privaten und damit gebührenpflichtigen Kindertagesstätten, (Hoch-)Schulen und Nachhilfeinstitute seit Jahren. Die mit der Privatisierung der Bundesdruckerei einhergegangene Preisexplosion bei der Ausstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen sorgt zwar regelmäßig für Unmut, aber statt auf die Privatisierungspolitik zu schimpfen, verteufeln wir die träge Verwaltung. Und die Wehklagen über das "Unterschichtenfernsehen" von RTL, RTL II und SAT.1 wären hinfällig, wenn die Anfang der 1980er-Jahre vom Bertelsmann-Konzern mit der unionsgeführten Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung des Rundfunks unterblieben wäre. Preiswerter Wohnraum ist nicht mehr nur in Hamburg, München und Köln knapp, sondern in beinahe allen Ballungszentren. Auch in den angesagten Vierteln Berlins, wo Wohnraum lange preiswert war, steigen die Mieten, und die Ärmeren müssen den Wohlhabenderen Platz machen. In allen Kommunen, in denen die Abfallentsorgung, die Energie- und Wasserversorgung sowie die Gebäudereinigung privatisiert wurden, klettern die Preise, mitunter bis aufs Dreifache. In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als 1.100 Schwimmbäder geschlossen. Die teils horrenden Eintrittspreise für privat betriebene "Spaßbäder" können sich finanzschwache und/oder kinderreiche Familien nicht mehr leisten. Der soziale Ausgleich als Prinzip der Sozialen Markwirtschaft bleibt auch im öffentlichen Personennahverkehr auf der Strecke: Bus- und Straßenbahntickets werden regelmäßig teurer, die Taktungen ausgedünnt, Haltestellen aufgegeben. Obwohl Privatisierungen also offenkundig für die Mehrheit der Bevölkerung beträchtliche und für unzählige Menschen existenzielle Nachteile mit sich bringen, hält sich der öffentliche Unmut in Grenzen. Dabei sorgt sich angesichts des Um- und Abbaus des Sozialstaates nahezu jeder, ob er den Lebensstandard wird aufrechterhalten können - erst recht im Ruhestand. Wie lässt sich dies erklären? Vermutlich weil die Bevölkerung die Verschlechterungen gar nicht mit Privatisierungen in Verbindung bringt, weil diese häufig im Verborgenen, ja mitunter sogar "streng geheim", vor sich gehen. Ein eindringliches Beispiel liefert die Deutsche Bahn, die 2006 mit der "Verschlossenen Auster" ausgezeichnet wurde - dem von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche e.?V. verliehenen Negativpreis für "Auskunftsverweigerer in Politik und Wirtschaft". Wesentliche Informationen drangen in der "Mehdorn-Ära" nicht an die Öffentlichkeit; die Bahn zog Werbeanzeigen in Medien, die kritisch berichtet hatten, zurück. Als einer der größten Anzeigenkunden im deutschen Verlagswesen und als Abnehmer großer Zeitungskontingente für Erste-Klasse-Reisende und DB-Lounges kann die Bahn die Berichterstattung beeinflussen. So bleiben viele Folgen ihrer Privatisierung im Dunkeln. Privatisierungen werden auch deshalb zu selten kritisiert, weil sie im Zeitalter des Neoliberalismus als alternativlos wahrgenommen werden. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass mit Privatisierungen lediglich Symptome kuriert, nicht aber die Ursachen bekämpft werden: Zwar erzielen Kommunen, Länder und der Bund mit Privatisierungen hohe Einmaleinnahmen, über die sich Politiker freuen, weil sie ihnen neue finanzielle Handlungsspielräume eröffnen, an der Unterfinanzierung der Gebietskörperschaften ändert dies aber nichts. Es bedarf der Einsicht, dass ein Steuersystem, das Arbeit diskriminiert und Kapital privilegiert, nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, sondern auch den Privatisierungsdruck erhöht. Hohe Einkommen zeichnen sich durch eine höhere Sparquote aus, d.?h. sie werden zu einem geringeren Teil für den Konsum aus...